Ich wußte alles. Navigation, Wellenkunde, Knoten, Wetterkunde, alle Art von Manövern, eben alles was man Zwergpirat wissen mußte. Und doch war ich nicht glücklich. Da war dieses nagende Gefühl in mir, daß es mehr als Wind und Wellen gab, höheres Glück als das Bezwingen des Malmstroms. Was war nur los mit mir? Eine besondere Art von Seekrankheit? Keiner meiner Kameraden verstand mich. Sie waren glücklich durch die Wellen zu tanzen, Sturm und Wasser zu trotzen. Und so beschloß ich, daß ich mich wohl nur in einer schwierigen Phase befand, die auch irgendwann wieder zu Ende gehen würde, wenn ich nur lang genug wartete. Und ich wartete und wartete aber mein Wissensdurst nahm nicht ab. Im Gegenteil, was als unbestimmtes Gefühl begann, wurde bald zur Gewißheit. Das Meer mußte Grenzen haben, irgendwo da draußen gab es noch anderes, als nur das marine Leben. Doch wie und in welcher Form sollte mir lange Zeit verschlossen bleiben, bis ich zum ersten Mal Festland sah. Grau. Nicht grau wie das vom Sturm gepeitschte Meer, und auch nicht grau wie ein wolkenverhangener Regentag, sondern ein Grau von vielen Schattierungen an denen sich das Wasser brach und die Gischt wie ein Feuerwerk gen Himmel spritzte. Dem Steuerrad zugeteilt hielt ich direkten Kurs auf dieses nie gesehene Schauspiel, als plötzlich der Kapitän aufgeregt an Deck erschien und mir das Ruder aus der Hand riß. In letzter Sekunde bewahrte er uns vor dem Aufprall auf ein Riff. Nach einer deftigen Standpauke und einer Erklärung des Begriffs Felsen wurde ich wieder ans Steuer gelassen und fuhr uns so an der Küste entlang, bis wir an einen Hafen kamen. Auf diesem kurzen Stück sah ich wohl mehr als in meinem ganzen Leben davor. Bäume, bunte Blumen, Steilküsten, weißer Strand und fremde Lebewesen, die auf zwei oder vier Beinen durch die Gegend liefen und uns vom Ufer aus zuwinkten. Und erst der Hafen! Beschränkte sich mein soziales Leben doch bisher auf einen Haufen rauher Zwergpiraten traf ich hier auf die verschiedensten Daseinsformen. Und zum ersten Mal wurde mir auch klar, warum wir uns ZWERGpiraten nannten. Ein ständiger Kampf ums Überleben begann. Das Ausweichen der riesigen Schritte wurde bald zur Routine, in den Kneipen mußten wir stundenlange am Tresen auf- und abhüpfen, bis der Wirt uns bemerkte und kleine Besorgungen in der Stadt wurden zum Tagesausflug. Aber was gab es nicht alles zu sehen und erleben. Fremde Wesen, Schausteller und Musiker, Gerüchte und Geschichten aus aller Welt, unbekannte Speisen und Getränke, ganz ohne Algen zubereitet, Alkohol und andere Genußmittel. Meine Kameraden und ich zogen wie im Rausch durch die Stadt, um alles Neue und Fremde in uns aufzusagen. Und ich hatte Recht behalten. Es gab mehr als nur das Meer und vielleicht, ja sogar wahrscheinlich war diese Stadt nur ein winziger Ausschnitt dessen, was uns unbekannt war. Hatte ich nicht in der Kaptänskajüte große weiße Flecken auf den Seekarten gesehen? Solle dies alles Festland sein? Mit solchen Gedanken beschäftigt saß ich eines Abends in einer der vielen Spelunken, als mir zwei merkwürdige Figuren auffielen. Heute weiß ich, daß ich sich bei den beiden um ein Hempelchen und einen Schweinsbarbaren handelte, doch damals erschienen sie mir als ein merkwürdiges Paar, die jedoch ein interessantes Gespräch führten. So berichteten sie einem Wolpertinger, von einer gewissen Nachtschule, in der man alles, wirklich alles lernen könnte. Mein Interesse war geweckt.
Als sich der Wolpertinger von den beiden
abwendete, versuchte ich mit ihnen ins Gespräch zu kommen, konnte
aber ihre Aufmerksamkeit nicht erregen. Bald verließen auch diese
zwei die Kneipe, und ich dachte darüber nach, was ich erfahren hatte.
Eine Nachtschule in den Finsterbergen. Was waren denn bloß Berge?
Eine Eliteschule des Prof. Nachtigallers, einem hochintelligenten Eydeeten.
Und was bitte ist ein Eydeet? Und wie sollte ich dort hin gelangen? War
auch das Festland kartiert? Konnte man diese Bergen mit dem Schiff erreichen,
und wie reiste man sonst? Fragen über Fragen, wer konnte sie mir bloß
beantworten. Ich hatte bei meinen Überlegungen wohl laut vor mich
hin gesprochen, denn plötzlich sprach mich von hinten jemand an. „Du
suchst die Nachtschule?“ Ich blickte mich um, und sah ein Wesen nicht viel
größer als ich selbst aber von einer solch unbeschreiblichen
Häßlichkeit, daß es mir zunächst die Sprache verschlug.
„Wer bist Du?“ bekam ich schließlich heraus. „Ich bin ein Schülerlotse“
antwortete mein Gegenüber. „Ein was?“ „Ein Schülerlotse. Professor
Nachtigaller hat mich persönlich ausgeschickt, um wißbegierigen
Wesen den Weg in seine Nachtschule zu weisen, damit sie dort unbegrenztes
Wissen erlernen können“ Ich konnte mein Glück kaum fassen. War
es nicht genau das was ich gesucht hatte? Unbegrenztes Wissen, und eine
freundliche Person, die mir den Weg dorthin weisen würde. Freudig
strahlte ich meinen Retter an. „Und wo ist diese Schule? Wie komme ich
hin? Kann ich sie auch mit dem Boot erreichen?“ Meine Fragen überschlugen
sich. „Nun, zunächst mußt Du in den großen Fluß
segeln, dann... der dritte Kanal links ... Vorsicht an der Schleuse, da
entstehen gefährliche Strudel ... und am Ende des großen Sees
steht eine Hütte mit Anleger. Das ist die Nachtschule“ Eifrig schrieb
ich alles mit, um auch ja keinen Abzweig zu verpassen. Ich fragte wie ich
dem freundlichen Wesen danken könne, doch er winkte ab. „Keine Ursache,
dafür bin ich ja schließlich da. Kähähä“ Verwundert
sah ich auf. „Kähähä, was soll das heißen?“ „Oh, das
heißt, das ist, ähm, ja das ist der Nachtschulengruß.
Wenn Du die Hütte erreichst, mußt Du dreimal Kähähä
sagen, dann wirst Du eingelassen.“ Ich dankte ihm noch einmal überschwenglich,
und machte mich auf den Weg zurück zum Schiff. Dort berichtete ich
dem Kapitän von meinen Plänen. Kopfschüttelnd hörte
er zu, fragte mich, ob ich auch wirklich sicher sei, überließ
mir aber schließlich sogar das Beiboot und wünschte mir viel
Glück. So begann meine Reise zur Nachtschule.